Brief von Wolfgang Schäuble an Lars Wiggert so aktuell wie 2012
Für Einigkeit in der Vielfalt Europas
Foto: ArchivInsel Sylt. Wolfgang Schäuble (Bild links, Foto: Oliver Mark) war einer der letzten Großen in der deutschen Politik. Am Zweiten Weihnachtsfeiertag ist der 81-jährige CDU-Politiker, der zahlreiche Spitzenämter in der deutschen Politik ausübte und seit 1972 ununterbrochen Mitglied des Deutschen Bundestags war, in Offenburg gestorben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat einen Staatsakt zur Würdigung seiner außerordentlichen Leistungen für Deutschland angeordnet.
Auch auf Sylt war Wolfgang Schäuble über Jahrzehnte ein gern gesehener Gast, der regelmäßig auf der Insel im Urlaub war und im Sommer an zahlreichen kulturellen Veranstaltungen teilnahm. Auch der Sylter Künstler Lars Wiggert (Foto rechts, Archiv) war mit ihm in Kontakt und schickte aus Anlass des Todes Schäubles ein Schreiben des CDU-Politikers an ihn an die Redaktion. Das Schreiben des damaligen Bundesfinanzministers von Januar 2012 thematisierte seinerzeit die kulturelle Dimension der europäischen Einigung. „Wenn ich heute auf das Schreiben blicke, wirkt es unverändert aktuell auf mich“, sagte Lars Wiggert am Wochenende im Gespräch mit der Redaktion unserer Zeitung.
An dieser Stelle möchten wir den Brief von Wolfgang Schäuble an den heute in Hamburg lebenden Maler, der erst jüngst in Westerland ausstellte, gern veröffentlichen.
„Sehr geehrter Herr Wiggert, herzlichen Dank für Ihren Brief vom 23. Dezember 2011 und die Übersendung Ihres Katalogheftes. Sie zeigen eindrucksvoll die Schönheit der Insel Sylt selbst bei rauem Wetter.
„Windig bis stürmisch“ geht es dieser Tage auch im politischen Europa zu. Aber auch hier darf uns ein steifer Wind nicht den Blick darauf verstellen, was Europa uns bedeutet und welches Glück die europäische Einigung gerade für uns Deutsche ist. In Ihrem Brief zitieren Sie aus meiner Rede „Europa eine Seele geben“ einen von Jean Monnet übernommenen Satz, der rückblickend auf sein Lebenswerk feststellte, dass er die kulturelle Dimension der europäischen Einigung noch stärker an den Anfang der politischen Integration hätte stellen wollen. Und natürlich hat Jean Monnet recht: Europa ist nicht allein eine technisch-bürokratisch organisierte Zusammenarbeit auf Regierungsebene, sondern eine Wertegemeinschaft, die auf gemeinsamen kulturellen Wurzeln gründet und einen gemeinsamen Auftrag zur Zukunftsgestaltung angenommen hat.
Ich bin fest davon überzeugt, dass Europa nur gelingen kann, wenn es im Alltag der Menschen erfahrbar ist und gelebt wird. Konkret geht es darum, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen und ein Bewusstsein für Einigkeit in der Vielfalt Europas zu entwickeln, Solidarität zu üben und gemeinsam mehr zu erreichen, als die Summe von Teilstaaten es je könnte. Auch im 21. Jahrhundert ist die Kunst unverändert von unverzichtbarer Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs. Insofern freut es mich, dass Sie in Ihrem künstlerischen Werk den europäischen Einigungsgedanken aufgreifen und zeitgemäß interpretieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Europäische Einigung in erster Linie ein Versöhnungswerk und aus diesem Grund in den Herzen fast aller Menschen ganz fest verankert. Frieden in Europa gilt heute zunehmend als Selbstverständlichkeit. Entsprechend verstellt leider viel zu oft ein verkürztes ökonomisches Bilanzieren von europäischen Zahlungsströmen den Blick auf den Wert Europas für das Wohl der Völker und den eigenen Beitrag zur Bewältigung globaler Herausforderungen. Jede Generation und jede Zeit muss sich dieses Wertes neu vergewissern und einen eigenen Zugang finden. Sie helfen mit, Antworten auf diese Fragen zu finden, die auch heute und morgen tragen können. Dafür danke ich herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel schöpferische Kraft.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Schäuble,
Bundesminister der Finanzen Berlin, 17. Januar 2012“
Geschrieben von: Heiko Wiegand / veröffentlicht am: 03.01.2024